Der Wecker klingelt. Es ist 3 Uhr nachts. Verschlafen blicke ich zum Fenster hinaus. Der Schnee funkelt im Mondschein und hüllt die Vorgartenszenerie in ein Wattebett. Kurz die Augen reiben und schon sind wir munter, denn Vorfreude und Spannung auf unser Forschungsprojekt könnte kaum größer sein. Wenige Minuten später sitzen wir im Auto und cruisen über die Schweizer Autobahn in Richtung San Bernardino-Pass. Auf der Fahrt genießen wir unser umfangreiches Forscherfrühstück.
5:45 zeigt die Uhr, als wir unseren Zielort Hinterrhein erreichen. Es ist bitterkalt. Der Skitourenparkplatz ist um diese Zeit noch komplett leer. Schneeschuhe anziehen, Bike auf die Schulter und schon nehmen wir die rund 1400 Höhenmeter bis zum Gipfel in Angriff. Der Schnee ist wie erwartet steinhart gefroren. Alles verläuft nach Plan. Ein Plan, der gewiss wagemutig ist, der auch schnell komplett in die Hose gehen kann.
Anfang März – in dieser Jahreszeit sind die hohen Berge der Alpen kein Ziel für Biker. Die Trails sind meterweise mit Schnee bedeckt. Jeder Versuch, im tiefen Powder zu biken, würde nicht einen Zentimeter weit führen. Außerdem könnte das Bike durch seine geringe Auflagefläche leicht Lawinen auslösen. Kurzum, Ski oder Snowboard sind die Sportgeräte erster Wahl.
Doch was ist, wenn im März die schon kräftige Sonne die Südhänge durchfeuchtet und selbige nachts zu einem steinharten Panzer gefrieren? Was ist, wenn sich in diesen Hängen die Aufstiegsspuren der Skitourengänger wie Trails den Berg hinunter schlängeln? Da könnte man schon in Versuchung kommen, diese Spuren als Abfahrtstrail zu benutzen! Unsere Erfahrung aus dem Bike- und Skitourenbereich sagt uns, dass die Idee nicht unrealistisch ist. Fehlt also nur noch der passende Berg. Über 3000 Meter soll er hoch sein, damit sich unser Forschungsprojekt auch lohnt. Die Hänge müssen weitgehend südlich ausgerichtet sein, um nachts den harten Schneepanzer bilden zu können. Außerdem sollte die Hangneigung knapp unter 30° liegen, damit wir keinem besonderen Lawinenrisiko ausgesetzt sind. All diese Eigenschaften vereint finden wir am 3039 Meter hohen Chilchalphorn. Somit war unser Forschungsprojekt Um 3 auf 3 geboren.
Die Packliste für die Tour liest sich eher ungewöhnlich. Neben der Standardausrüstung für eine Biketour kommen noch Schneeschuhe, Lawinenschaufel und Sonde sowie das Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS) hinzu.
Trotz des Zusatzgewichtes kommen wir gut vorwärts, denn Kälte und Motivation treiben uns an. Mit jedem Schritt wird der Nachthimmel etwas heller. Schon bald können wir unsere Stirnlampen wegpacken. Zum Sonnenaufgang haben wir bereits die Hälfte des Aufstieges hinter uns gebracht. Die ersten Sonnenstrahlen tauchen die höchsten Gipfel in goldenes Licht. Kuppen und Hügel erzeugen ein faszinierendes Licht-Schatten-Spiel. Teils so surreal, dass man Ausschnitte davon für ein abstraktes Gemälde halten könnte. Es herrscht absolute Stille, lediglich der Schnee unter unseren Schneeschuhen knirscht bei jedem Schritt. Momente wie dieser sind einfach unbezahlbar! Mag das frühe Aufstehen noch so zäh sein, ein Sonnenaufgang in den Bergen macht das ganz schnell vergessen.
Rund drei Stunden später ist der Gipfel in Reichweite. Die dünne Höhenluft macht sich allmählich bemerkbar. Unser Tempo wird immer langsamer. Die letzten Schritte, dann ist es endlich geschafft! Überglücklich klatschen wir ab und widmen uns bei bestem Panorama und Königswetter dem zweiten Frühstück. Dreieinhalb bis vier Stunden sind es laut Toureninfos aus dem Internet bis auf den Gipfel. Wir haben es nach drei Stunden und 15 Minuten geschafft. Keine schlechte Leistung mit den Bikes auf der Schulter. Die Sicht auf dem Chilchalphorn ist fantastisch und reicht heute sicher 100 Kilometer weit. Tief im Tal sind bereits die ersten Skitourengänger zu sehen. Auf unserer Abfahrt wird es wohl noch ein paar lustige Begegnungen geben.
Liebend gerne würde ich mich in diese Gipfelruhe fallen lassen. Aber leider können wir sie nicht lange genießen, denn wir sollten die Abfahrt so früh wie möglich beginnen. Je später die Abfahrt, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass der gefrorene Schneepanzer auftaut.
Ziemlich nervös steige ich aufs Bike. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen. Wird die Schneedecke tragen? Oder müssen wir die Bikes schlimmstenfalls wieder 1400 Höhenmeter herunter tragen? Haben die Reifen genug Grip auf dem steilen Gipfelgrat? Zeit, es herauszufinden! Ich rolle los und siehe da, der Grip ist bombastisch und die Schneedecke hält. Die langen Stollen der Wetscreams fräßen sich in den Schnee und vermitteln ein Gefühl von Sicherheit. Selbst die gleich folgenden S3 Spitzkehren in der Skitourenspur lassen sich trotz vollem Gewicht auf dem Vorderrad sicher fahren. Obwohl der gute Grip Sicherheit vermittelt, arbeiten wir uns behutsam durch die Spitzkehren. Der Schnee mag zwar harmlos wirken, allerdings sind die Hänge hier oben am Gipfelaufbau noch so steil, dass ein Sturz ziemlich sicher erst nach etwa 40 Höhenmetern Rutschpartie enden würde.
Nach der spannenden Spitzkehrenzirkelei werden die Hänge allmählich etwas flacher und wir verlassen den Gipfelgrat. Zeit, die Bremsen zu öffnen. Flowig surfen wir dahin, selbst eine gesunde Kurvenlage ist in der Skitourenspur möglich. Das Fahrgefühl ist zwar etwas weich, aber trotzdem oder gerade deshalb macht es richtig Spaß. Wir surfen über Kuppen und drücken das Bike in die Steilhänge hinter den Schneewächten. Es läuft! Und zwar besser, als erwartet.
Plötzlich eine Schneestaubwolke vor mir. Raphael liegt mitten drin. “Was ist passiert?” frage ich. “Bin mit dem Vorderrad eingesackt, ist einfach stecken geblieben”. Ohje, das heißt nix Gutes! Vorsichtig testen wir die nächsten Meter der Skitourenspur an. Doch sie trägt nicht mehr. Der Schnee ist durch die Sonne und die warmen Temperaturen schon zu weich geworden. Und das schon jetzt, wo noch fast 1000 Höhenmeter Abfahrt vor uns liegen!
Wir beratschlagen kurz und entschließen uns, die Abfahrt neben der Spur im Tiefschnee zu versuchen, bevor wir die Bikes wieder ins Tal tragen müssen. Das Anrollen gestaltet sich durch den Widerstand des tiefen Schnees schwierig. Nach ein paar affigen Versuchen kommen wir aber vorwärts. Zum Glück sinken die Räder nur 10 bis 15 Zentimeter ein. So können wir im steilen Gelände wieder richtig Speed aufbauen. Immer wieder kreuzen wir die Skitourenspur und treffen schließlich auf die erste Gruppe Skitourengeher, die sich im Aufstieg befindet. Herzlich begrüßt man sich. Wir werden gleich genötigt, etwas mehr über unser Projekt Um 3 auf 3 zu erzählen. Die Skitourengeher – alle jenseits der 65 Jahre – sind begeistert. Eine Dame will gleich ein paar Fotos von uns machen. “Mein Enkel ist auch Mountainbiker, ohne Beweisfotos glaubt er mir das nie”, erzählt sie und zückt die Kamera.
Wir rollen weiter. Die Hänge werden flacher, wodurch die Abfahrt immer mehr zum Taktikspiel wird. Wo sind die steilsten Abschnitte? Wo die kürzesten Flachstücke? An welchen Stellen sieht der Schnee optisch fester aus? Zum Glück scheinen wir gute Taktiker zu sein, denn wir kommen mit nur wenigen Metern schieben immer tiefer ins Tal.
Plötzlich öffnet sich ein flacher Kessel vor uns. Keine Chance, ihn zu umfahren. Und am Ausgang des Kessels pausiert eine Gruppe Skitourengeher. Genau jetzt passiert das Unvermeidbare. Die Situation, von der ich die ganze Zeit hoffte, dass sie nicht eintritt. Wir nehmen jeden erdenklichen Schwung mit in den Kessel, doch es nützt nichts. In der Mitte des Kessels stecken die Bikes fest. Hier heraus treten ist nicht. Wir müssen schieben, und das vor den Augen der Skitourengeher. Spannung liegt in der Luft. Unser freundliches Grüßen wird nicht erwidert. In den Blicken der Skitourengeher lesen wir, dass sie wenig von unserer Aktion halten. Besonders, weil wir ihnen gerade vor ihrer Nase demonstrieren, dass sie nicht funktioniert. Auch an unseren Blicken kann man etwas ablesen: peinlich, dass wir genau hier scheitern.
Schnell raus aus der unangenehmen Situation. Der Berg ist nun wieder auf unserer Seite. Die Hänge werden nochmals steiler, bevor sie in der Ortschaft Rheinwald auslaufen. Noch immer zeigt sich das Dorf verschlafen, einzig in der Aufstiegsspur der Skitourengeher regt sich Leben. Die letzten 400 Höhenmeter Abfahrt lachen uns an. So tief im Tal ist der Schnee schon richtig nass, was die Abfahrt rutschig und teils unkontrolliert macht. Das stört uns aber nicht. Im Gegenteil! Der Versuch, sich auf dem Bike zu halten und eine saubere Linie zu fahren, wird so richtig lustig und anspruchsvoll. Gelegentliche Löcher unter der Schneedecke sorgen für den ein oder anderen Abgang über den Lenker, für die allgemeine Erheiterung und gleichzeitig für nasse Klamotten. In steileren Abschnitten zeigt das Bremsen im rutschigen Schnee kaum noch Wirkung. Deren Ausfahrt wird zum Pokerspiel. Wartet ein Loch unter ‘m Schnee? Wer wird es treffen? Zack, Vorderrad eingebrochen, Zeitlupenabgang über den Lenker. Ich hab es getroffen. Vor lauter Lachen komme ich kaum auf die Beine und kassiere noch einen Schneeball von Raphael. Alles nass, Schnee abklopfen und weiter geht das Vergnügen. Ein Wechselspiel beginnt. Jeder kassiert fast eine Hand voll Abgänge bis ins Tal. Die letzten Meter machen richtig Spaß!
Ziemlich durchnässt, aber glücklich kommen wir kurz vor Mittag wieder beim Auto an. Unser Forschungsprojekt ist doch nicht gescheitert! Zugegeben, es gibt Verbesserungsmöglichkeiten, aber man kann es als Erfolg verbuchen.
Ein paar Minuten später sitzen wir bei Café und obligatorischem Eis in der Sonne, lassen uns trocken und fachsimpeln über Verbesserungsmöglichkeiten für den kommenden Winter. Da geht noch was!
Schöne Geschichte, und die Bilder, vorallem vom frühen Morgen, sind einmalig! Das nächste Mal schlage ich Anfangs bis Mitte April vor und vor 10 Uhr wieder im Tal sein (z.B. mit dem Zelt), dann ist der Schnee bis ins Dorf gefroren!
Gruss
Dominik
Danke Dominik für die netten Worte! Ja, wir waren zu spät dran. Ein weiteres Problem war vermutlich, dass es nachts nur -4° hatte, der Schnee war vermutlich nicht tief genug durchgefrohren. Mal schauen, ob der nächste Versuch besser wird ;-)
Ride on!
Flo