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Kanada 1/3 – Sea to Sky

Eine Stunde später landen wir schon wieder, die 767 des Condor Flugdienstes hat das Rennen gegen neun Stunden Zeitverschiebung nur knapp verloren. Vancouver begrüßt seine Gäste mit warmem, sonnigem Wetter und langen Schlangen vor Customs & Immigration. Bei vier Wochen Aufenthalt vor Augen können Dave und ich uns sehr gelassen durch die Formalitäten treiben lassen. Es ist Samstag, 23.08., der erste Tag in British Columbia.

Nachdem Dave verletzungsbedingt ein gutes Jahr lang praktisch gar nicht vernünftig auf’s Bike kam, ist diese Reise nun die Entschädigung für langen Verzicht. Dave hatte sich auf La Palma – ganz ohne konkreten Vorfall – eine Kapselreizung des linken Bremsfinger zugezogen. Direkt nach der Genesung folgte ein schwerer Sturz und Knie und Saison waren ganz hinüber. Der der OP folgende Heilungs- und Therapieprozess dauerte lange und erlaubte keine sportliche Betätigung mit Gefahr erneuter Stürze.

Der geneigte Leser darf sich jedoch entspannt zurücklehnen: es wird keine Berichterstattung aus Krankenhäusern oder Arztpraxen geben. Wir sind weitgehend intakt geblieben und haben weder uns noch Material ernsthaft beschädigt.

British Columbia also.

Wir haben die vierwöchige Reise nicht als Runde anlegt sondern als West-Ost-Querung in einem nördlich verlaufenden Bogen zwischen Vancouver und Calgary (s. Route). Zwar fehlen uns somit nun Vancouver Island und die die südlichen Spots wie Fernie, Kelowna und Rossland. Dafür können wir uns aber weniger hektisch in die Spezialitäten der besuchten Reviere einfinden.

Der Reisebericht teilt die Reise in drei Abschnitte und wird entsprechend auch in drei Teilen veröffentlicht. Dieser erste erzählt von unseren Stationen in den Coast Mountains, der westlichen Gebirgskette British Columbias mit den Städten Vancouver, Squamish und Whistler, die über den Sea-To-Sky-Highway verbunden sind. Der zweite wird von unserem Besuch im steppenartigen Hochland des Fraser Plateaus und den Städten Williams Lake und  Kamloops berichten. Zum Ende hin führt uns der Highway 1 durch die Canadian Rockies mit dem traumhaften Örtchen Revelstoke zu unseren letzten Destinationen Banff und Calgary, wovon der dritte Teil der Serie handeln wird.

Vancouver

Vancouver mit seinem vom Wasser eingefassten Stanley Park – dem drittgrößten Stadtpark Nordamerikas.

Vancouver. Die Stadt, die sich unsichtbar machen will. In der Metropole mit knapp 2,5 Millionen Einwohnern (davon etwa 600.000 in Vancouver Stadt) im Mündungsdelta des Fraser River hat man das Wachsen nach oben dem in die Fläche vorgezogen. Die Skyline wird gebildet von den Glasfassaden der Hochhäuser, in denen gewohnt, gelebt und gearbeitet wird. Es fehlen die gigantischen Wolkenkratzer eines Manhattans, stattdessen setzt die Architektur auf ein Gleichmaß an Höhe und Gestaltung. Die Fassaden sind bläulich-grau und heben sich nur wenig vom Horizont ab, so als wäre die Stadt am liebsten gar nicht da.
Vancouver erscheint uns als äußerst lebenswerte Stadt und das sagen wir nicht nur als Mountainbiker, die gleich am Nordrand der Metropole die berühmtesten aller Bikereviere vorfinden. Die Häuserschluchten in Downtown erdrücken nicht und es finden sich allerorten ruhige und (meistens) gemütliche Plätze. Natürlich auch gut besuchte, wie den Canada Place mit seinem Mittag-Massen-Yoga oder das Convention Center, in dem gerade ein Rollenspiel-Kongress stattfindet.
Wir verbringen in den drei Tagen vor Ort viel Zeit in der Stadt, schlendern über Märkte, durch Hausboot-Siedlungen, Chinatown und Parks, besuchen den alten Stadtteil Gastown und das anthropologische Museum der University of British Columbia und staunen den Wasserflugzeugen im Hafen hinterher. Urlaub.

Da kommen also so ein paar dahergelaufene Europäer nach BC, haben sich ein paar Trail-Videos angeschaut und finden das alles gar nicht so krass. Damit die Nordung stimmt, beginnen wir unser Abenteuer am Cypress Mountain (West Vancouver) gleich mit Trails der Kategorie Single und Double Black Diamond. Und wir lernen sehr schnell, dass in BC ein schwerer Trail nicht unbedingt das ist, was wir darunter verstehen. Genau genommen hat das ganze Biken dort nicht so viel mit unserem Trailbiking zu tun – sieht man mal vom neuen Konzept des gebauten Flowtrails ab. Mountainbiking in Kanada findet nicht auf einem gewachsenen Netz von Pfaden statt, die zu den unterschiedlichsten Zwecken angelegt wurden, wie in unseren Wälder und Bergen. Trails in Kanada sind extra zur Benutzung zu Freizeitzwecken angelegt: Mountainbiken, Wandern, Moto-Trial, Reiten, für nur eine Sportart oder als Mixed-Use-Trails für alle. Cross-Country-Trails mischen sich mit Freerides und DH-Tracks. Mal ist die Gemeinde dafür zuständig, mal der örtliche MTB-Club und hier und dort auch individuelle Builder.
Ganz so sorgenfrei ist das Anlegen von Trails auch in Kanada nicht; auch hier müssen Forstgesetze beachtet werden und private Besitzrechte gewahrt bleiben. Mancherorten gibt es Schwierigkeiten, die denen in Deutschland nicht unähnlich sind. Aber natürlich kann diese riesige Vielfalt an gebauten Trails nur durch eine offene Grundhaltung entstehen, die die Verantwortung dem Nutzer selbst zuweist. Es wird gewarnt statt gesperrt. Sympathisch.

Die Trails am Cypress Mountain sind steil, sehr steil. Schon beim Einstieg direkt am Highway schaut man oft in eine steile, schuttige Rinne in der zu allem Überfluss auch noch dicke Felsbrocken den direkten Weg versperren. Der weitere Verlauf ist dann mit allerhand technical trail features (TTF) gespickt, also natürlichen oder gebauten Gemeinheiten: Rock-Rolls, Drops, Skinnies, Doubles, Logrides. Einiges lässt sich (von uns) nicht auf Anhieb fahren, weil die Frage Can I roll it? nicht aus dem Fahrfluss heraus zu beantworten, wenn z. B. der Auslauf nicht einsehbar ist. Schade, eigentlich müsste man alle Trails ein zweites und drittes Mal fahren. Wobei damit die Frage nicht beantwortet ist, ob wir denn alles an TTFs mitnehmen würden. Der Boden der Tatsachen findet sich nämlich viel weiter unten als gedacht. Wir sind nun mal keine Freerider.

North Shore - ganz klassisch

North Shore – ganz klassisch

Uns war vorher klar, dass Airtime zum Charakter kanadischer Trails gehört. Und dass drei, vier Besuche in Beerfelden und Stromberg den eklatanten Mangel an Selbstvertrauen in der Flugphase nicht kompensieren können. Wir hätten wohl besser mit Whistler starten sollen. Doch mehr dazu später.
Typischerweise sind wir in Alpen unterwegs, bikebergsteigend, hike-a-bike-ish. Ein technischer Trail ist einer, der gewisse Trial-Techniken voraussetzt und zu dem führt, was spöttisch aber zutreffend Stolperbiken genannt wird. Cypress Mountain zeigt– zumindest mir – sehr (und vielleicht zu) deutlich, was im persönlichen Portfolio noch alles fehlt. Hier kann man auch sein Vertrauen in sich verlieren.
Trotzdem ist es auch ein Erfolgserlebnis schließlich einfach in Steilstufen und -passagen hineinzufahren, die man morgens noch zögerlichen Begutachtungen unterzogen hätte.

Mt. Fromme, das zweite Revier gelegen im Norden der Metropole, entpuppt sich zum Glück als deutlich moderater. Bei gleicher Bewertung sind die Trails einfacher, was sicher auch daran liegt, dass es sich beim Mt. Fromme Trail Network um eine öffentliche Einrichtung handelt. Die Trail-Einstiege sind sorgsam beschildert, die TTFs weniger brachial. Für uns, die nicht mit den hier üblichen Big-Bikes anrücken (für die es das Shuttle bräuchte, welches wir nicht haben) ist spannend zu sehen, dass man auch an die XC-Fahrer gedacht und Trails zum Hochfahren geschaufelt hat oder zumindest die leichten, grün-bewerteten auch für den Uphill freigegeben sind. Bobsled, zum Beispiel, ist ein geschmeidig angelegter Trail, der Blaupause für die heimischen Flowtrails sein könnte. Einer der New-School-Abfahrten, welche die klassischen North Shore Trails zu verdrängen scheinen.

Und selbst das geht noch besser: Half Nelson in der Diamond Head Riding Area in Squamish gebührt vielleicht die Krone der Flowtrails. Trails werden üblicherweise mit Motorsäge, Spitzhacke und Schaufel gebaut. Half Nelson hingegen wurde, öffentlich gefördert, mit dem Minibagger angelegt. Entsprechend gut ausgebaut mutet er fast schon highway-ish an. Der Trick dabei: er lässt sich mit allen Könnensstufen befahren und bietet gleichzeitig auch allen Könnensstufen eine Menge Fun. Während ein Anfänger  flott durchrollt und den Trail wie einen Pumptrack fährt, kann der fortgeschrittene Fahrer die Bodenwellen doubeln. Für die Rémy Métaillers dieser Welt bleibt die Option, die Anlieger als Absprungkanten zu nehmen und gleich die ganze Kehre zu doublen (wie z. B. Sid Slotegraaf). Das ist so gewollt und entsprechend so gebaut. Den Trail fahren wir gleich dreimal, wenn auch nicht wie Rémy, zugegeben.

Auf dem Sea-to-Sky Highway nach Squamish

Auf dem Sea-to-Sky Highway nach Squamish

Squamish ist eine kleine Stadt am Sea-to-Sky-Highway auf dem Weg von Vancouver nach Whistler, ziemlich mittig der Strecke gelegen. Besucher aus der Ferne hasten vielleicht zu schnell vorbei, auf dem Weg zum berühmten Bikepark Whistler-Blackcomb. Dabei erstreckt sich auch hier ein weitreichendes Trail-Netzwerk und das ist offenbar so attraktiv, dass es selbst Kelly McGarry und Niki Leitner  hierher verschlägt, die kurz hinter uns im train mit anderen aus dem Wald geschossen kommen. Beeindruckend finden wir die Mühe, die sich die Trailbuilder hier auch für die Uphill-Trails geben: der Spar Tree Climb ist ein Flowtrail für bergauf. Die Kehren sind gerade so weit, dass sie flüssig zu fahren sind, die Steigung ist gleichmäßig und gut zu treten.

Uns erscheinen die Wälder um Squamish typischer “kanadisch” als die des Vancouver Northshore. Moose und Flechten überwuchern Bäume und Boden, das rote Totholz der Pinien bildet den farblichen Kontrast dazu. Und in der Tat erwischt uns hier auch das erste Mal etwas Regen. Denn die Wälder sind Küstenregenwälder, was wir bislang nur anhand des üppigen Moosbewuches auf Felsen und Bäumen erahnen konnten. Irgendwie fehlte bislang der Regen als Namensgeber und das ändert sich für einen knappen Tag. Der G-String Trail nahe der Ortschaft Britannia am Howe Sund, etwas südlich Squamish, entpuppt sich als eine Art BC Essentials: Rock-Rolls, Rock-Faces, roter Boden, grünes Moos. Echtes Bilderbuchkanada.

Premiere hat hier nicht nur der Regen sondern auch der erste ordentliche Crash – habe die Ehre. Die Rippenprellung ist Folge eines verunglückten Roll-Rolls und wird mich noch eine Weile beschäftigen: Lachen verboten.

Der Sea-To-Sky-Highway führt uns weiter vom Howe-Sund ins hochgelegene Whistler, ein pseudo-heimeliges Bergdorf aus der Retorte. Hört sich schlimm an, aber seien wir ehrlich: auch Courmayeur oder Saas Fee sind heute weniger alte Bergbauernsiedlungen als Touristendestinationen. Ach so, man soll nicht immer alles mit den heimischen Alpen vergleichen, Kanada ist nicht Europa, und so weiter und so fort? Ihr habt so Recht.

Wir beziehen unser Zimmer im Alpine-Glow-Hotel. Keine Ahnung, woher die diesen Namen haben?!

Trails recherchieren wir abends und hin und wieder auch noch morgens auf den beiden Seiten trailforks.com und bikepirate.com. Unsere Notebooks sind unterwegs auf dem Bike eher unpraktisch, weshalb wir vor Ort immer auch nach einer Trailmap fragen, so auch in Whistler (gibt’s hier als App). Wer jetzt stutzt: Trailmap?! Hier ist doch ein Bikepark und so?! Aber sicher doch, allerdings sollte man nicht den Fehler machen, Whistler auf seinen famosen Bikepark zu reduzieren. Um den Ort herum besteht ein dichtes Netz an – wie hier eben üblich – in die Wälder geschaufelten Trails. Natürlich geniesst man im Park die Vorzüge des Lift-unterstützten Uphills. Aber wer sich darauf beschränkt, lässt eine noch viel größere Spielwiese links liegen.

Unsere Frage im Bikeladen nach Gargamel offenbart unsere Arglosigkeit (s. Video mit Rémy Métailler).  Ich denke, uns ist noch nie so dringlich von einem Trail abgeraten worden: alpine terrain, exposed riding, isolated area, if-something-happens-that-was-it.

Hoppla.

Also fahren wir mit dem Auto ans nördliche Ortsende und machen uns auf den Weg zum Einstieg von Gargamel Die Beschreibung ist völlig korrekt. Und wenn man’s genau nimmt, trifft sie auf so ziemlich alle Trails zu, die wir in den Alpen so kennen. Nichts Neues für uns also und zum ersten Mal fühlen wir uns, tja, fast wie zuhause. Ein sehr empfehlenswerter Trail für alle, die sich in technischem, alpinen Gelände wohl fühlen.
Das Green Monster hingegen ist wieder so ein furchtbar typisch kanadischer Trail mit ultrasteilen Rock-Rolls. Hier wiederum fühlen sich die Locals zehnmal wohler als auf einem Gargamel und lutschen die ganzen TTFs mal eben so auf ihrer Feierabendrunde weg. Unsereins berechnet da noch lange den Einschlagwinkel am Fuß des Felsen und kommt in der Gleichung entweder auf zu viele Unbekannte oder dem Ergebnis, dass das gar nicht gutgehen kann. Ein Paralleluniversum. Nur für Dave gilt das nicht: kann er zwar Skinnies – vor allem solchen mit “Bodenfreiheit” – praktisch nichts abgewinnen, so entwickelt er hingegen eine gerade zu besessene Vorliebe für noch so steile Rock-Rolls.

Einer der Rock-Rolls von "Green Monster"

Einer der Rock-Rolls von “Green Monster”

Stehen Gargamel und Green Monster für völlig gegensätzlich wahrgenommene Trails, so ist der Bikepark Whistler-Blackcomb sozusagen die Naturkonstante als anerkannt einer der besten Bikeparks überhaupt. Noch einmal: Wir sind nicht großartig Bikepark-erfahren. Echte Vergleiche fehlen uns somit, jedoch können wir nachvollziehen, woher Whistler sein Renommé bezieht. Die Infrastruktur ist ausgezeichnet, die Trails in ihrer jeweiligen Kategorie perfekt gebaut. Beeindruckend.
Eine Weile spiele ich mit der Idee, für den Parkbesuch ein Bike zu leihen. Ich glaube auch, dass ich das beim nächsten Mal dann tun werde. So jedoch musste das Banshee Spitfire ein wenig Missbrauch erleiden – was es klagloser übersteht als sein Fahrer. Meist fahren wir die Kombi Una Moss, Blue Velvet, Crank-it up und GX Course. Eher einfache, flowige Trails mit Tables und Anliegern. Fährt man bis zur Talstation kommen fast 1.200 Hm zusammen – in einer Abfahrt. Das spürt man deutlich, denn Bremswellen und Löcher vor und in den Anliegern wollen ausgehalten werden und kosten Kraft. Zumindest bei 140 mm Federweg.
Nach vereinzelte Ausflügen auf die schwarzen Strecken, kommen wir immer wieder auf diese blauen Abfahrten zurück. Die planierten Pisten sind völlig neu und völlig genial für uns. Denn alles ist sicher gebaut, auf eine Grundgeschwindigkeit getrimmt und so gut wie alle Sprünge klappten auf Anhieb. Airtime und Sichheitsgefühl wachsen in unverhofften Maße. Da schaut man sich im Flug schon mal die Gegend an oder versucht das Rad irgendwie schief zu stellen. Und bei der ersten A-Line-Abfahrt ignoriert Dave den offenen Helm, als es an die ersten, nur aus Videos bekannten, Sprünge geht. Sonst ein absolutes No-Go!

Und wieder ganz anders und sehr nach unserem Geschmack sind Downhill-Trails wie Howler. Dieser (und seine Verlängerung Upper Howler) ist so etwas wie ein Bikepark-Trail außerhalb des Bikeparks: sehr konsistent in Charakter und Anspruch und frei von Überraschungen auf Sicht zu fahren. Kein Brechsand-Freeride-Trail sondern ein recht natürlicher, steiniger Trail – aber trotzdem ein gebauter, klar.

Davon werden wir noch weitere kennenlernen.

Der nächste Abschnitt führt uns in das landschaftlich gänzlich verschiedene Kanada der Graslandschaften der Cariboo Region.

Ende Teil 1.

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