Die Herde Schafe zählt vielleicht zwei Dutzend, wie sie uns da entgegen getrottet kommen. Vier Hirten dirigieren sie ins Tal. Dass man Räder stundenlang und ohne naheliegenden Grund durch nicht übermäßig wegsames Gelände schleppt, mag ihnen nicht so recht einleuchten. Verständlich, wenn man als Bauer um drei Uhr morgens, wie sie erzählen, raus aus den Federn und rauf auf die Berge muss, um seine Tiere für den Winter aus den Bergen zu holen. Harte Arbeit, keine Frage. Etwas merkwürdig ist das krumme Verhältnis von Bauern zu Tieren aber schon und seltsam obendrein die ziemlich riesigen Rucksäcke, die sie mit sich schleppen. Jeder zieht weiter seines Weges.
Und der ist, nach einem letzten Flachstück in der Talsohle, steil und steinig bis schuttig, Moränenlandschaft. Der Fahrer des Postautos, das uns am frühen Morgen zum Startort der Tour brachte, erzählte er wäre dort früher mit Freunden auf Trialmotorrädern hoch – zur Freude der Wanderer, die ihnen gleich ihr Gepäck mitgaben, um sich den Aufstieg zur Hütte zu erleichtern.
Die Tour ist lang. Sie beginnt auf dem Wartungsweg einer der vielen Suonen, weitgehend offenen Wasserleitungen zur Bewässerung der Felder. Die Suone führt uns ein gutes Stück weit ins Innere des engen Wallis-Seitentals und bietet eindrückliche Tiefblicke. Weiter hinten im Tal passieren wir einen Maiensäss und eine alte Bergbausiedlung, die heute als Wochenend-Zuflucht dient; sie wirkt gepflegt.
Der Zustieg zum Tagesziel verläuft weiterhin in der Talsohle und macht eher Strecke als Höhe. Lediglich zwei Felsriegel gilt zunächst zu überwinden. Jetzt sind wir schon eine Weile gelaufen, die Bikes abwechselnd schiebend und tragend, gelegentlich auch fahren. Den Bauern und ihren Schafen begegnen wir am frühen Vormittag und eine knappe Stunde später rasten wir in einem Meer aus Heidelbeeren. Es ist so praktisch, sich einfach nur bequem in die Sträucher zu setzen und um sich herum zu futtern. Sehr lecker.
Nach einer Bachquerung über Holzbohlen folgt der eigentliche Anstieg durch und über die Seitenmörane, das Ziel in Sicht. Ziemlich steil, ziemlich blockig, ziemlich schuttig. Oben auf der Hütte ist das Hallo! groß. Die Hüttenwirtin Jolanda hat uns schon im Aufstieg mit dem Fernglas beobachtet; Bikes sind hier wirklich selten. Zusammen mit der Wirtin genießen wir bei Rivella und Kuchen den phantastischen Ausblick von der Terrasse.
Drei Tage zuvor am späten Nachmittag. Dave, Felix und ich warten auf der Seitenmoräne oberhalb des Glacier d’Argentière mit den Bikes darauf, dass die Wolken die Sonne doch nochmal frei geben und uns ein wenig schönes Licht zum Fotografieren spendieren. Es soll nicht sein. Und die Abfahrt durch den krümelig-weichen Schutt macht auch nicht so recht Freude. Bleibt der Trail von der Bergstation der Seilbahn aus zurück nach Argentière. Doch erweisen sich die Franzosen hier als besonders raffiniert: statt ein Bikeverbot auszusprechen hat man dem Trail durch unregelmäßige Querrinnen jeglichen Flow genommen. Na gut, ihr habt gewonnen: das macht jedenfalls keinen Spaß.
Am Abend stehen wir in Kontakt mit Michael Reichmann (IBC Mudge). Er war gerade mit Andreas S. (IBC Mr Spades) am mittlerweile etwas überlaufenen 3.700er, dort aber auf etwa 3.200 im Schnee förmlich stecken geblieben. Das ist auch eines unserer Hauptziele und die Aussicht, extra zwei Stunden Anfahrt dafür zu haben und womöglich ebenfalls nicht weiter hoch zu kommen, wenig motivierend. Die Pläne B und C werden hervorgekramt. Oder sind es eher D und E? Wir verwerfen unsere Ziele nicht zum ersten Mal, denn das Wetter war mit tief herabgezogener Schneegrenze in den Tagen zuvor wenig Bergtouren-freundlich.
Mudge und Mr. Spades haben für den Folgetag einen etwa 3.100m hohen Gipfel in der Grenzregion Schweiz/Frankreich als Ziel festgelegt – so, wie unabhängig von den beiden, wir auch. Eine gute Gelegenheit, sich kennenzulernen und so gilt die Verabredung für den zweiten Tag unseres Trips.
Wir starten die Tour des zweiten Tags wegen der Anfahrtstrecke der beiden spät, erst gegen 11 Uhr. Dave hat das Ziel als Stichtour geplant – diesmal. Bei seinem ersten Besuch an diesem Gipfel sind er und sein Trupp ins Nachbartal abgefahren, was sich als recht mühsame Route entpuppte. Auf ein neues also, diesmal aber mit einer sehr brauchbaren Abfahrt, wie sich schon im Aufstieg zeigt.
Auf dem Gipfel ist es zu kalt für eine ausgiebige Rast. Das Panorama mit Grande Jorasse und Mont Blanc müssen wir aus geschützterer Lage weiter unten genießen (und haben das, genau genommen, schon im Aufstieg getan). Die Abfahrt beginnen wir leicht durchgefroren und deshalb etwas zäh. Sie ist in der Gipfelregion ungewöhnlicherweise auch nicht sonderlich anspruchsvoll, ja eher zügig zu fahren. Anspruchsvoll und spannend wird es im Mittelstück, das durch groben Blockschutt und schließlich durch eine Slickrock-Passage führt. Dann wieder folgt klassisches Vertride-Gelände mit hohen Stufen, engen Kehren und viel Geröll. Der untere Teil dieses Abschnitts verläuft in Sichtweite einer bewirtschafteten Hütte, die gerne zum Ausgangpunkt für diesen Gipfel gemacht wird. Die Gäste dort empfangen uns bei der Ankunft mit Applaus.
Wieder wechselt der Charakter des Trails, jetzt geht es durch teilweise natürliche, teilweise angelegte Felstufen zurück ins Tal. Die letzten Meter sind sehr zügig zu fahren. Vielleicht besser nicht ganz so zügig: Plattfuss Nummer eins bei Claus.
Nach einem gemeinsamen Abendessen trennen sich die Wege wieder: Mudge und Mr. Spades zügeln ins Wallis, wir bleiben in der Umgebung von Chamonix.
Samstag, dritter Tag unseres Trip: wir haben entschieden, aufgrund der ungewissen Schneelage auf das Hauptziel zu verzichten und uns drohendes Pech mit unnötiger Autofahrt und Mautgebühren zu sparen. Wir starten gleich in Chamonix zu einem Aussichtspunkt praktisch inmitten der Gletscher am Mont Blanc. Zwei aufeinander folgende, nur kraxelnd zu überwindende Steilstufen lassen uns am Vorhaben, die Bikes mit zum Ziel zu nehmen, etwas zweifeln. Wird es jetzt doch unfahrbar? Zum Glück siegt die Unvernunft. Während Felix und ich die Räder zunächst nur alibihaft zum Fotografieren mitnehmen, stellt sich bald heraus, dass oberhalb der Steilstufen doch mehr fahrbares Gelände existiert als gedacht. Dave kehrt um, um sein zurückgelassenes Rad zu holen.
In den schwarzen, wie Liegestühle genau Richtung Sonne und Mont Blanc geneigten Felsplatten am Ziel lässt sich die Zeit vergessen. Eisberg voraus. Trotz der umliegenden Eismassen ist es fast gemütlich warm; wir hängen, ehrlich gesagt, eine gute Weile ziemlich faul herum.
Die Abfahrt klappt viel besser als gedacht; anspruchsvoll – sicher, aber fast komplett fahrbar. Biken direkt am Gletscher, wo hat man das schon. Entsprechend gut wird die Tour fotografisch dokumentiert. Lediglich ein Abschnitt, der durch einen auf ewig von der Sonne verschmähten und damit nassen Teil des Hangs führt, ist nicht fahrbar. Versuche enden in Stürzen oder einem aufgespiessten Hinterrad: Plattfuss Nummer zwei bei Claus.
In einer Jausenstation frischen wir die zuneige gehenden Wasservorräte auf – und obendrein den Blutzuckerspiegel mit leckeren Nutella-Crèpes. Ab hier bis runter ins Tal ist der Trail sehr flüssig zu fahren – und sogar ganz ohne Flow-Spoiler-Gräben.
Der berüchtigte rote Pickup-Truck steht auf dem Oberdeck des Parkhauses. Lemming ist da. Axel hat den Weg vom Genfer See herüber nach Chamonix gefunden und begleitet uns am vierten Tag, unserem Nicht-so-ganz-Erholungstag. Erholung, weil die ersten 500Hm Seilbahn-unterstützt überwunden werden; nicht-so-ganz, weil die beiden Abfahrten mörderisch rumpelig sind. Die erste Abfahrt erfolgt über die offizielle Downhill-Strecke. Wir gönnen uns die Zusatzabfahrt, weil die Tageskarte kaum mehr kostet als die Einzelfahrt. Für die eigentliche Tour nutzen wir die Gondel ein zweites Mal, steigen dann aber nochmal 500Hm bergauf. Ehrlicherweise müssen wir zugeben, dass wir auch dafür gerne die Seilbahn genutzt hätten. Doch es naht nach Vorstellung der Betreiber das Ende der Berg-Saison und deshalb haben sie die obere Bahn, die bis zum Gipfel führt, bereits geschlossen. Also schieben wir durch ein sommertrostloses Skigebiet. Wir nehmen uns die Zeit, die Gleitschirmflieger zu beobachten, die sich im Gegenzug mit harter Action für unseren Voyeurismus bedanken: einem der kürzesten Tandemflüge aller Zeiten. Ab in die Tanne. Schlimmeres passiert ist gottlob nicht. Das dürfte dem Gast trotzdem jegliche Ambitionen auf eine eigenständige Gleitschirmflieger-Karriere genommen haben.
Vom Gipfel, vis-à-vis des Mont Blanc (alle Gipfel sind hier irgendwie vis-à-vis des Mont Blanc) windet sich der Trail zunächst stufig-verblockt zur Passhöhe hinab, dann als technisch-flowiger Trail weiter ins Tal. Die technischen Passagen haben es ganz schön in sich und das geringe Gefälle verlangt nach kräftigem Antritt ausgangs der Spitzkehren. In der Waldzone wird der Trail dann schnell; ausgedehnteren Wurzelpassagen weicht man in die hangseitige, steile Böschung aus und hofft dabei, dass die Reifen im sandigen Boden genug Grip halten können und man nicht doch im Wurzelwerk zum abrupten Stillstand kommt. In zackigem Tempo geht’s zurück ins Tal.
Dave und Axel probieren noch eine weitere DH-Strecke im Ort, die mit dem Tagesticket genutzt werden kann. Felix und ich hängen derweil gemütlich auf dem Parkplatz ab. Unter dem Jubel einiger Hotelgäste nehmen wir noch ein erfrischendes Bad in einem Gletscherbach, bevor wir zusammen mit Axel nach Martigny ins Wallis weiterfahren. Nach dem Abendessen in der einzigen Pizzeria, die man ohne allzu sehr zu lügen “preiswert” nennen darf, macht sich Felix mit seinem Camper auf den Weg nach Visp, zum Ausgangpunkt der nächsten Tour im Oberwallis; Dave und ich lassen uns von Axel aushalten, der Sofa und Hängematte spendiert. Von da starten wir früh am nächsten Morgen ebenfalls nach Visp und treffen Felix wie verabredet am Busbahnhof. Das Postauto bringt uns zum Startort.
Einige Stunden später sitzen wir zusammen mit Jolanda, der Wirtin, bei einer bunten Mischung aus Rivella, Milchkaffee und dem restlichen Kuchenvorrat auf der Terrasse und genießen die Aussicht. Viel los ist auf der Hütte nicht und umso erfreuter ist Jolanda über unseren Besuch – ganz abgesehen davon, dass Bikes hier oben praktisch nie vorkommen und wir schon deshalb ein Highlight sind. Das Highlight darf dann auch gleich unter der Schweizer Flagge für ein Erinnerungsfoto posieren, das Dave ihr zuzusenden verspricht. Selbst profane Dinge wie das Anlegen der Knieschützer und das Anpassen der Bikes für die Abfahrt werden mit großer, aber freundlich-unaufdringlicher Neugierde verfolgt.
Der Einstieg in den Trail beginnt mit einer schönen Felspassage, danach folgen viele Höhenmeter in Blockschutt und Moränengeschiebe. Nicht wirklich einfach, aber im Großen und Ganzen noch flüssig zu fahren. Die Querung eines verzweigten Gletscherbachs über nasse Holzbohlen wagt sich nur Felix – erfolgreich!
Auch tiefer, längst zurück in der Gras- und Sträucherzone, bleibt der Trail hakelig und will genau deshalb flüssig gefahren werden.
Wir erreichen wieder die alte Bergmannssiedlung und treffen dort alte Bekannte: die Bauern mit ihren Schafen. Die morgens noch bestaunten riesigen Rucksäcke bekommen hier ihren Sinn oder besser: Inhalt. Ziemlich viel Alkoholisches und noch viel mehr Käse für’s Fondue, das auf dem Ofen in einer der Hütten vor sich hin blubbert. Das ziemliche viele Alkoholische hat mittlerweile seinen Weg aus dem Rucksack in die Bauern gefunden; diese sind jetzt, sagen wir: sehr redselig. So stellt sich heraus, dass ihre Angabe, den Tag um 3 Uhr begonnen zu haben, so nicht zu halten ist. Vielmehr haben sie sich mit dem Helikopter hochfliegen lassen und sind somit nur lustig und munter mit ihren Schäfchen die halbe Strecke ins Tal gelaufen. Der Wortführer faselt etwas von einem Mountainbiker, der uns entgegen gekommen sein müsste und ob wir den nicht gesehen hätten. DaswärjadummwennnichtdenndannmüssteeralsFührereinerHundestaffellosunddaswärjajetztvölligüberflüssig… Wir dürfen an dieser Stelle anmerken, dass es für einen zu Rettenden jetzt grad wirklich ungünstig wäre, gesucht werden zu müssen. In dem Zustand finden die nämlich niemanden. Die interpretierte Kurzfassung wird wohl lauten: alle mal herhören, ich bin Führer einer Rettungshundestaffel! Braver Mann.
Die Einladung zum Abendessen kontern wir nicht ausreichend geschickt und unversehens landet ein weiterer Käse im Topf und werden Gläser mit durchaus brennbarer Flüssigkeit gereicht. Uns wird das zu viel Bohei und obwohl es extrem unhöflich ist, eisen wir uns los. Wirklich böse ist man uns nicht; vielmehr erklärt man uns noch wortreich, welcher der vielen Wege weiter unten der beste sei. Den Rat werden wir gekonnt ignorieren.
Wie üblich im Wallis werden die Trails nach unten heraus immer schneller. Schon etwas müde ist der Fahrstil nicht mehr ganz sauber, das rächt sich: Plattfuss Nummer drei. Am Abend sind wir zurück an den Autos. Dave und ich beziehen Station in einem B&B in Susten, Felix parkt seinen Camper auf dem Hausparkplatz.
Für den nächsten Tag, es soll wegen hereinziehenden Schlechtwetters auch der letzte Tag unseres Trips sein, schließt sich uns Doro an. Zusammen shutteln wir mit den eigenen Autos nach Chandolin um von dort den Klassiker Illhorn zu machen. Keine außergewöhnliche Tour, zugegeben, aber ein schönes Ziel als Abschluss. Die Liftstation ist bei unserer Ankunft verlassen, nichts regt sich dort. Also fahren wir weiter in den Ort um von dort dann in aller Gemütlichkeit hochzukurbeln. Merkwürdig: wieso fährt der Lift jetzt doch und wieso hängen da sogar Bikes dran? Zu spät, wir sind schon fast oben.
Vom Gipfel fahren wie in Anbetracht vielleicht doch noch einsetzenden Regens direkt via Illsee ins Tal hinab. Im ruppigen Alpgelände hole ich mir den nächsten Durchschlag, Plattfuss Nummer vier. Die Strecke ist mitunter abenteuerlich, nutzt sie doch die kaum begangenen Wartungswege für mehrere Brunnenstuben im Tal. Erst tiefer kommen Bikespuren hinzu, dann wird der Trail zu einer sehr steilen, teilweise ausgefahrenen DH-Piste.
Zurück am Ausgangspunkt beginnen wir ein Rennen gegen das aufziehende Unwetter. Dave muss bei den Bikes und der Ausrüstung harren, bis Felix, Doro und ich die Autos aus Chandolin abgeholt haben. Es reicht zeitlich gut, aber noch auf den ersten 100km des Heimwegs beginnt es zu regnen.
Ich fahre jetzt Schlauchlosreifen.